Im Jahr 2024 sind mehrere relevante Urteile sowohl des Bundesarbeitsgerichts als auch verschiedener Landesarbeitsgerichte ergangen, die sich mit der Frage beschäftigen, in welchen Fällen der Beweiswert einer von einem Arbeitnehmer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann.
Weitläufig herrscht sowohl bei Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern oftmals die Auffassung vor, dass eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nahezu immer das Vorliegen einer zur Erbringung der Arbeitskraft unfähig machenden Erkrankung zweifelsfrei beweist und dass es arbeitgeberseitig kaum Chancen gäbe, diesen Beweis zu widerlegen.
Die aktuelle Rechtsprechung zeigt auf, dass es eine Reihe von Fallgruppen gibt, in denen die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingeschränkt ist oder der Beweis durch qualifizierten Vortrag in einem gerichtlichen Verfahren sogar in Gänze erschüttert werden kann.
Dem Arbeitnehmer obliegt bei Geltendmachung eines Entgeltfortzahlungsanspruchs die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Im Regelfall wird er dieser durch das Vorlegen einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gerecht. Es werden durch die Instanzgerichte und das Bundesarbeitsgericht in letzter Zeit jedoch immer wieder (neue) Fallgruppen herausgearbeitet, in denen diese hohe Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gegeben ist.
In einem Grundsatzurteil stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann, wenn sie unmittelbar nach einer Kündigung vorgelegt wird und passgenau bis zum Ende der Kündigungsfrist greift (BAG, Urteil v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, NZA 2024, 539). Wenn der Arbeitgeber in diesen Fällen die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzweifelt, muss der Arbeitnehmer unabhängig von der Bescheinigung seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit darlegen, in dem er die Diagnosen offenlegt und darlegt, inwiefern das vorhandene Krankheitsbild und seine Symptomatik für eine Arbeitsunfähigkeit sorgen.
Die Instanzgerichte sorgen für weitere Ausdifferenzierung: Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern stellt fest, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeit „regelmäßig erschüttert“ ist, wenn sie nach einer Kündigung vorgelegt wird (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 07.05.2024 – 5 Sa 98/23, NZA-RR 2024, 624). Weiterhin stellte es fest, dass es für den Beweis des Bestehens der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht ausreichend ist, wenn ein behandelnder Arzt zwar eine schwerwiegende Diagnose stellt, der Arbeitnehmer aber weder die vom Arzt verordneten Medikamente einnimmt, noch den vom Arzt empfohlenen Facharzt konsultiert.
Weiterhin kann der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch in Fällen erschüttert sein, in denen der ausstellende Arzt gegen bestimmte Vorschriften der sog. Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss verstößt. Von besonderer Relevanz sind hier §§ 4, 5 der Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellung der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist, wenn diese entgegen § 4 Abs. 5 der Richtlinie allein aufgrund eines telefonischen Kontakts zwischen Arzt und Arbeitnehmer ausgestellt wurde oder entgegen § 5 Abs. 5 der Richtlinie die Erst-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine voraussichtliche Krankheitsdauer von mehr als zwei Wochen bescheinigt, sofern dies aufgrund der Erkrankung oder aufgrund besonderer Umstände nicht indiziert ist (LAG Niedersachen, Urteil v. 18.04.2024 – 6 Sa 416/23, FD-ArbR 2024, 811964).
Ebenfalls kann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein, wenn diese für einen Zeitraum vorgelegt wird, für die der Arbeitnehmer vorher Urlaub begehrte, dieser jedoch nicht gewährt wurde (LAG Niedersachsen, Urteil v. 08.07.2024 – 15 SLa 127/24, ÖAT 2024, 238).
Zuletzt kann der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch erschüttert sein, wenn die Krankmeldung unmittelbar auf eine unliebsame Arbeitsanweisung folgt, die ansonsten im Krankheitszeitraum hätte erledigt werden müssen. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat hierzu festgestellt, dass der Beweiswert in einem Fall erschüttert ist, in dem es eine Auseinandersetzung zwischen einem Vorgesetzten und einem Angestellten gab, bei der der Arbeitnehmer aufgefordert wurde, seine Auffassung zu der streitgegenständlichen Thematik in der folgenden Woche in einer Präsentation darzulegen, wobei der Arbeitnehmer sich dann für diese Woche krankmeldete (LAG Niedersachen, Urteil v. 31.05.2024 – 14 Sa 618/23). In diesem Fall gelang dem Arbeitnehmer auch unabhängig von der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Beweis seiner Arbeitsunfähigkeit nicht, da er darlegte, dass er aufgrund der beruflichen Belastung an Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall und Schmerzen im Arm leide, jedoch einen Segelurlaub antrat, wobei das Gericht ausführte, dass man für einen solchen Urlaub sowohl ein robustes Verdauungssystem, als auch eine ausreichende Armkraft benötige. An diesem Urteil ist gut zu erkennen, dass nach einer Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gerichtlich alle Umstände des Einzelfalls geprüft werden. In diesem Zusammenhang hat auch das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, dass im Falle der Erschütterung des Beweiswerts der Bescheinigung der Zustand eintritt, als hätte der Arbeitnehmer keine Bescheinigung vorgelegt. Er muss dann konkrete Tatsachen darlegen, um das Bestehen einer arbeitsunfähigkeitsbegründenden Erkrankung nachzuweisen, wobei die einfache Benennung bestimmter Diagnosen nicht ausreicht. Viel mehr muss im Detail dargelegt werden, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden, welche Verhaltensregeln ein behandelnder Arzt zur Genesung aufstellte und welche Medikamente er verordnete (BAG, Urteil v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, NZA 2024, 539).
Der Arbeitgeber muss zunächst einen Umstand benennen, warum er davon ausgeht, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arbeitnehmers im konkreten Fall keinen Beweiswert hat. Er kann dies nicht einfach pauschal behaupten. Wenn der Arbeitnehmer nach einer tatsächlichen Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung jedoch nicht zu den genauen Umständen seiner Arbeitsunfähigkeit vorträgt, gilt die Arbeitsunfähigkeit als widerlegt (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 05.07.2024 – 12 Sa 1266/23, NZA-RR 2024, 626).
Es zeigt sich, dass Arbeitgeber die Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht in jedem Fall ohne Weiteres anerkennen müssen, wenn eine der vorgenannten Fallgruppen in Betracht kommt. Die instanzgerichtliche Rechtsprechung wird künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre fallbezogene Judikatur erweitern. Es kann sich also lohnen, bei begründeten Zweifeln die Entgeltfortzahlung einzubehalten.
